Oleksandra Bienert und ich nahmen im Juli 2024 an einer Tagung der Bundeszentrale für Politische Bildung teil, dort begegneten wir uns erstmalig. Das Thema der Tagung lautete: “Dimensionen der (P)Ostmigrantischen Gesellschaft”. Als wir feststellten, dass wir uns beide mit der Oder beschäftigten, freuten wir uns – und ahnten: wir würden bald wieder zusammentreffen.
Dieses Gespräch führen wir kurz vor der Veranstaltung “TraumaTische GegenWarten, Oder?!” Oleksandra Bienert wird am 13. Februar 2025 vor Ort in Frankfurt (Oder) sein und erstmalig ihre Fotoserie “Oder-los” zeigen.
Liebe Oleksandra, wie bist Du dazu gekommen – es ist jetzt etwa fünf Jahre her – als Studentin der Ostkreuzschule für Fotografie, an die Oder zu fahren?
Während des Fotografie-Studiums hat man mehrere Themenblöcke, mit denen man sich fotografisch befasst. Einer davon war die Naturfotografie. Die Aufgabe war sehr offen gestellt, sodass man als Studentin selbst überlegen konnte, in welche Richtung man gehen möchte. Ich habe mich dabei für die Flusslandschaft der Oder entschieden.
Die deutsch-polnische Grenze entlang der Oder hat mich seit meiner Ankunft in Deutschland im Jahr 2005 sehr interessiert – vielleicht, weil ich selbst an einer Grenze aufgewachsen bin. Ich wurde in Chernivtsi (deutsch: Czernowitz) in der Westukraine geboren und habe die Sommer oft bei meiner Oma in der nahegelegenen Stadt Novoselytsia an der Grenze zu Rumänien und Moldau verbracht. Novoselytsia liegt in der östlichen Bukowina, am linken Ufer des Flusses Pruth, der in seiner Geschichte immer wieder ein Grenzfluss war. In meiner Kindheit spiegelte sich diese Grenzerfahrung in einer Mischung von Sprachen und Kulturen wider, die man sprach, lebte oder verstand. Diese prägenden Erlebnisse haben mich tief beeinflusst, weshalb mich die Oder als Grenzfluss besonders faszinierte. Das Fotografie-Studium bot eine gute Gelegenheit, mich der Oder fotografisch anzunähern, und ich bin während meines Studiums oft dorthin gefahren.
Was bedeuten Dir die Reisen an die Oder? Wie veränderte sich Dein Blick auf die Oder während dieser Reisen?
Während ich an der Fotoserie arbeitete, bin ich wochenlang jedes Wochenende mit dem Zug nach Frankfurt (Oder) gefahren. Zu Beginn meiner Reisen an die Oder galt mein Interesse der Grenze und der Grenzerfahrung. Doch je öfter ich dorthin fuhr, desto mehr verlagerte es sich. In Frankfurt kam ich immer sehr früh an – manchmal schon um 7 Uhr morgens – und machte mich mit meiner Kamera auf den Weg, spazierte entlang des Ufers. Zu dieser Uhrzeit war am Wochenende kaum jemand unterwegs, und so waren meist nur die Oder und ich anwesend. Plötzlich sah ich sie mit ganz anderen Augen – als einen Lebensraum, als ein eigenständiges Wesen. Die Grenzposten, die mir bei meinen Spaziergängen begegneten, verschwanden oft im Nebel, wurden unsichtbar. Dafür trat etwas anderes in den Vordergrund: der Lebensraum der Oder mit Kormoranen und anderen Wasservögeln. Dieser Lebensraum besitzt ein eigenes Leben, in dem die Grenze und unsere Zuschreibungen zwar eine Rolle spielen, aber eben nur eine von vielen.
Die Fotoserie begann als eine Arbeit über die Grenze und endete als der Versuch, die Oder als eigenständiges Subjekt einzufangen. Es ging mir dabei nicht um Vollständigkeit, sondern um ihre Stimme und Stimmung. Mein Lieblingsfoto mit den Kormoranen hat es übrigens gar nicht in die Serie geschafft – das muss man sich einfach vorstellen.
Deine Fotoausstellung heißt „Oder-Los“. Du sagst, es sind Bilder einer Flusslandschaft. Was verbirgt sich hinter diesem Titel?
Während meiner Reisen stellte ich mir viele Fragen: Spielt es für die Oder eine Rolle, dass sie die deutsch-polnische Grenze bildet? Dass sie für uns ein wichtiges Symbol der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in Europa ist? Was ist die Oder ohne unsere Zuschreibungen? Melancholie, Wohnraum, pure Existenz? Hat die Oder eine eigene Stimme? Kann sie sich unseren Konstrukten und Vorstellungen entziehen und als eigenständiges Subjekt wahrgenommen werden? Was ist letztlich das Schicksal, das Los der Oder? Meine Fotos geben darauf keine Antworten – sie sind vielmehr der Versuch, meinen inneren Dialog mit der Oder fotografisch einzufangen und ihr zuzuhören.
Oleksandra Bienert ist Trainerin für politische Bildung im Verein CineMova Ukrainian Empowerment Network e.V., der die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland stärkt. Sie engagiert sich ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzende der Allianz Ukrainischer Organisationen e.V.
Aktuell schreibt sie daneben ihre Doktorarbeit über intellektuelle Frauen aus der Ukraine im Berlin der 1920er Jahre.
Für ihr Engagement im Bereich der deutsch-ukrainischen Beziehungen wurde sie 2022 mit dem Verdienstorden des Landes Berlin und 2024 mit der Pankower Bezirksmedaille ausgezeichnet.
Neben der Fotoserie “Oder-Los” (Bilder einer Flusslandschaft), 2021, schloss sie im selben Jahr die Serie “30 Ukrainer*innen in Berlin” ab, mit Porträts und Geschichten von Menschen mit ukrainischer Migrationsgeschichte. 2022 schloss sie die Serie “I’m not a victim, I’m a survivor” mit Porträts und Geschichten geflüchteter Frauen aus der Ukraine ab, 2023 “Der Himmel kann warten”, mit Porträts der Nachbar*innen im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf.