Mensch, Land, Fluss – Perspektiven in Poznań

Zunächst wollten wir die Oder entlangfahren, warum verschlägt es uns für die O-der Töne plötzlich nach Poznań? Perspektivwechsel – das ist es, was wir brauchen, und das wird uns im Gespräch mit Ewa Rzanna schnell deutlich. Als sie vor Jahren Han Kangs Debüt „Die Vegetarierin“ las, lernte sie koreanisch, lernte dieses entlegene Land kennen, seine Brüche, und Aufbrüche, und genau so gnadenlos, wie Han Kang darauf blicke, sei es angemessen. Rzannas Stadt Poznań sei eine Stadt, die sich neu erkunden lasse. Eine einmal eingenommene Distanz kann zu neuem Hinschauen anregen. Poznań, „miasto pogranicza“, sei eben auch eine grenzländische Stadt. Und übrigens eine Stadt, so schrieb sie uns, durch die der größte Nebenarm der Oder fließe, die Warte. Ihrem wie beiläufig formulierten Hinweis folgen wir.

Mir fallen die Beleuchtungsinstallationen in der Stadt auf, Brücken leuchten uns auf einer Taxifahrt entgegen, der edle Weihnachtsmarkt auf dem Plac Wolności. Selbst die Straßenbahnen sind festlich beleuchtet. Da rauscht brutal die Nachricht im Autoradio dazwischen, vom Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Beklemmung. Dem Taxifahrer und mir gehen Zahlen und Referenzpunkte durcheinander. Poznań sei genau so groß wie Magdeburg, fragt er, und ich will sagen, dass Poznań deutlich größer sei, was stimmt, es sind fast doppelt so viele Einwohner*innen, aber in dem Moment bin ich zu verunsichert. 

Wie wichtig sind die festlichen Beleuchtungstraditionen? Verweisen sie auf eine Nähe zu Traditionen in Deutschland, oder stehen sie vielmehr im innerpolnischen Wettbewerb um den prächtigsten Weihnachtsmarkt? Ewa Rzanna lenkt den Blick auf den Alltag der Stadtbewohner*innen. Die Menschen arbeiten viel, und wenn es im Winter so lange dunkel ist, tue es einfach gut, Lichter aufzustellen. Den Tannenbaum erst zu Heiligabend zu schmücken, das mache hier so gut wie keiner mehr. 

Pływalnia Miejska – Städtisches Schwimmbad in der alten Synagoge

Der neu gepflasterte Altstadtmarkt empfängt frisch herausgeputzt. Ich trete aus dem Neubauhotel heraus, das für eine junge internationale Szene steht und gleichzeitig auf lokalem Design fußt. Die angrenzende ulica Zydowska, jüdische Straße, ist nahezu komplett saniert und wartet mit den schicksten Cafés der Stadt auf. Direkt gegenüber des gläsernen Hoteleingangs ein scharfer Kontrast: die alte Synagoge zerfällt. Von den Nazis einst zur Schwimmhalle umgebaut, lässt die Sanierung auf sich warten. Ewa Rzanna erläutert, dass dies eine gängige Praxis der Investoren sei: so lange warten, bis etwas einstürze, damit der Denkmalschutz weniger vorschreibe, dann wiederaufbauen, mit dem, was es in der Innenstadt brauche, etwa Tiefgaragen. Und zugleich allerdings mit detailliert wiederhergestellten Ornamenten. Was sei wichtiger: der Denkmalschutz, die zukünftige Nutzung? Ich denke, es sind die Auseinandersetzungen, und die Art, wie sie geführt werden.

Ewa Rzanna führt mich zurück auf den Altstadtmarkt, jedoch nicht zum Rathaus, das mittags von Touristen umströmt ist, sondern vor das Gebäude daneben, das Standesamt. Ich erfahre von ihr, dass es sich um eine Neubaurekonstruktion der „Waage“ handele, einem im Mittelalter typischen Gebäude neben dem Rathaus. Sie weist mich auf Sockelhöhen und sichtbare Auffälligkeiten in den Pflasterungen hin. Hier bestätigen also heute junge Männer ihre Vaterschaft, Paare gehen den Bund der Ehe ein. Spüren sie das Gewicht ihrer Worte? Wie? Was spüren wir an dieser Stelle? An exakt der Stelle des Standesamtes stand vom Ende des 19. Jahrhunderts an das „Neue Rathaus“. Hier hielt Heinrich Himmler seine zweite Posener Rede, ein Dokument, das nachweist: die explizite Aufforderung zum Morden wurde propagiert, explizit hier ausgesprochen und stenografiert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde dieses Rathaus komplett abgetragen. Mein Blick auf den Platz gerät ins Wanken, ich meine zu spüren, was Ewa Rzanna mit „energy of words“ meint. Auch wenn ich umgeben bin von vielen frisch verlegten Pflastersteinen – die Steine ‚sprechen‘ zu uns, hier sind Schichten von Geschichte, nicht auszuradieren. Wir können uns nicht entziehen.