Ein sonniger Vormittag im späten November. Es ist einfach, eine Kurzreise von Berlin nach Frankfurt (Oder) zu unternehmen. Der Regionalexpress verkehrt halbstündlich, in etwas weniger als einer Stunde stehen wir bereits am Bahnhof und laufen Richtung Brunnenplatz und Oderturm. Dort stehen „ein paar Glaspavillons“, ein Waschsalon darin, ein Fischbrötchenverkauf, und einer der Pavillons sei, so René Pachmann, mit „Christliche Begegnungstage“ beschriftet. Als ich vor Jahren in Frankfurt (Oder) studierte, dann hier arbeitete, hatte es diesen noch nicht gegeben, aber hier hat Pachmann, katholischer Hochschulseelsorger der Ökumenischen Studierendengemeinde unseren Treffpunkt mit Constanze Krüger, der Kulturbeauftragten der Europa-Universität Viadrina vorgeschlagen.
Im Pavillon arbeiten junge Leute, es tritt ein älterer Herr hinein, der ein Bild für eine anstehende Ukraine-Kunst-Auktion spenden möchte. In einer Ecke stehen bunt verpackte Geschenke, ebenfalls Spenden. Von draußen dröhnt in dem Moment, in dem wir eigentlich unser Gespräch aufzeichnen möchten, der Bass von Popmusik herein. Der Weihnachtsmarkt am Platz feiert mittags bei Sonnenschein seine Eröffnung, und mit ihm die bunten Fahrgeschäfte.

Diese Frage habe ich mir schon vor Jahren in Frankfurt (Oder) und Słubice gestellt, weshalb ich gerade hier Anflüge von Lebendigkeit auf besondere Weise wahrnehme, irgendwie schräg, intensiviert. In einer Universitätsstadt, die kaum über ein gutes Café verfügt, in der das studentische Leben stark am Pendelverkehr des Regionalzuges ausgerichtet ist und unermüdlich nach Berlin weist. Vor unserer Fahrt habe ich in den Medien nach Einschätzungen gesucht, wie es dem Standort der Europa-Universität aktuell gehe. Den Artikel von Sabine Rennefanz im Spiegel hatte ich schon einige Monate zuvor wahrgenommen. Sie schrieb alarmierend vom „Niedergang“ der einstigen Vorzeige-Universität, der sinnbildlich für die Probleme von Ost und West stehe. Jetzt lese ich, ebenfalls im Spiegel, die Aussagen der Studentin Ira Heltin: „doppelt hält besser“. Sie tauche in das Doppelstadtleben ab, finde hier Kreativräume, die anderswo so nicht zu finden seien.
Als es uns im Pavillon am Brunnenplatz zu laut wird, verlegen wir unser Gespräch kurzerhand in das gegenüberliegende Hauptgebäude der Viadrina. Welcher Raum sei spontan am besten geeignet? Wir betreten einen kleinen „Ruheraum“, zu dem René Pachmann einen Schlüssel hat. An der Tür flackert sofort eine Erinnerung auf: diesen Raum hatte ich vor fast 15 Jahren schon einmal betreten, damals mit meiner nur wenige Monate jungen Tochter im Arm. Damals hatten sich familienpolitischen Sprecher*innen der Universität neu aufgestellt und diesen Raum in warme, orangefarbene Töne getaucht, eingerichtet, ermöglicht. Der Wickeltisch, auf den wir jetzt unser Mikrofon aufstellen, war damals noch nicht hier angekommen. Jetzt steht er da, wie ein alt eingesessenes Möbelstück.
Krüger und Pachmann sind ein Paar, sie erzählen ein wenig davon, wie sie ihr Familienleben vor über drei Jahren an die Oder verlagerten. Ich denke, dass auch sie einen fragenden und suchenden Blick für die Lebendigkeit des Ortes haben, an sie glauben, nicht vorrangig christlich, vielleicht mehr weltlich und menschlich motiviert. Alina und mich interessiert das Kunstwerk „SORRY“ von Joanna Rajkowska, und wie Pachmann und Krüger es geschafft haben, dieses an das Ufer der Oder zu holen. In Teamarbeit. Es war schon vor dem Transport an die Oder ein politisches Kunstwerk, die Katastrophe des Fischsterbens und die verschärften Grenzkontrollen kamen zeitgleich noch hinzu, erhöhten die Komplexität. Einen Sommer lang stand „SORRY“ 2023 hier, ganz nah an der Stadtbrücke. Und noch immer beschäftigt sie es, natürlich, mit Dokumentationsarbeit haben sie auch noch zu tun. Wo das Kunstwerk noch hätte stehen können und sollen, was noch alles möglich gewesen wäre, wenn es länger hier stehen geblieben wäre, diese Gedanken sind noch ganz frisch. Pachmann spricht Tacheles: „Das hier ist Peripherie.“ Beide nehmen wahr, wie vermeintliche Expert*innen nur kurz in die Stadt kommen, vorbeiziehen, immer auf dem Sprung, aber ohne Zeit, vor Ort einzutauchen. Viel, viel mehr sei möglich, sagt Krüger, die Kunsthistorikerin, wenn auch Details, die kleineren Differenzen mehr interessieren würden. Wenn nicht gleich die großen Schablonen von Ost und West herhalten müssten.

Alina und ich laufen zu der Stelle, wo „SORRY“, die Mauer aus Beton, das Anti-Denkmal ohne Sockel, mit Glassplittern oben drauf, gestanden hatte. Es sollen noch Spuren auf dem Boden zu sehen sein. Manche freut so eine sich selbst einstellende Kunst, grassroots im wörtlichen Sinn, sie erkennen Zentrales im Peripheren. Andere fanden das Anti-Denkmal zu Mauer-lastig, hässlich, hätten sich eher „etwas Schönes“ für die Uferpromenade gewünscht.

Unsere Blicke werden von bunt gestalteten Lastwagen angezogen. „Gesteuertes Bohrsystem. Grabenlose Verlegung“ steht auf dem einen. Wir rätseln um was es hier gehe und fragen einen der vorbeikommenden jungen Monteure. Nun suchen wir zu viert nach dem einen, alles erklärenden Wort. Ich könne auch polnisch, will ich gerade einwerfen, als ich vermute, dass der Monteur Pole sei, aber da freut er sich gerade, die Antwort zu haben: „Glasfaserkabel!“.

Wir wollen weiter nach Słubice, als eine von uns feststellt, den Personalausweis zu Hause liegen gelassen zu haben. Wir sprechen mit einer Passantin, die Stadt und Universität länger kennt. Nein, sie würde heute auf keinen Fall ohne Dokument zur Stadtbrücke laufen. Ihr Ton wird eindringlicher. Das sei heute eine ganz andere Situation mit den verschärften Grenzkontrollen. Das gefährdet ja unseren Alltag, unsere Lebensgrundlage hier.

Wir lesen ein schnell gezogenes Grafitto an einer Hauswand: „Tesla help“. Mich schaudert es, und ich bin auch traurig berührt. Das Tesla-Werk in Grünheide ist nicht weit, es soll grüne Mobilität und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit verheißen. Ein Funken Hoffnung als Ironie? Die Sorge um zukunftsfähige Arbeitsplätze in der Region ist groß. Die Sorge um die Wasservorräte in Brandenburg auch, denke ich. Optimismus sieht anders aus.

Einige Wochen später statte ich Słubice doch noch einen spontanen Besuch ab, ich befinde mich zunächst nur auf einer Durchreise nach Poznań. Aber Słubice zieht mich an. Und auch der Grenzverkehr ist an diesem Tag per Auto kein Problem. Stau- und hürdenlos lässt sich die Stadtbrücke überqueren. Aus einer geplanten Mittagspause werden einige Stunden. Ich spaziere auf der Uferseite der Oder, die über keine breit befestigte Promenade verfügt, dafür aber, viel attraktiver, wie ich finde, einen Trampelpfad, mit dem ich ganz nah ans Wasser treten kann.

In Słubice umweht mich zuverlässig ein Hauch Vergangenheit und Nostalgie, ich bin wie eine Fantasie-Heimatreisende im Land meiner frühesten Kindheit unterwegs, stille mein Verlangen nach Gerüchen und Geschmäckern. Und zugleich stimmt das natürlich nicht, kann nicht stimmen. Słubice ist eine kleine Stadt, die schnell ist, eine Stadt der Zukunft. Sie hält mich mit meinen kulinarischen Gelüsten auf Trab: dieses Lokal bot doch vor Kurzem noch gute Suppen an, Hausmannskost, dann zog es zwei Ecken weiter – ach, schon wieder weitergezogen? Statt meiner Lieblingssuppe entdecke ich neue Franchise-Ketten, Sushi usw. ist im Angebot. Ich suche weiter. Auch die ikonischen Kioske von „Ruch“ (übersetzt die Bewegung, der Straßenverkehr) – sie prägten über ein Jahrhundert lang viele Straßenzüge, erhielten noch im neuen Jahrtausend ein grünes Make-over – sind mittlerweile komplett verschwunden. Ich trauere ihnen nach, und bin nicht allein mit diesem Gefühl. „No szkoda“, schon schade, raunt ein Anwohner. Ich habe Mühe, meine Lieblingszeitungen und -Magazine zu finden – nein, Papier verkaufen wir hier kaum noch, heißt es in einem Laden und in einem Land, in dem die Digitalisierung wichtig ist.

Wie ist es mit meinem Optimismus hier bestellt? frage ich mich, im überaus gut besuchten „Café Artisan“ sitzend. Ich staune über das durchdesignte Dekor. Als neben mir eine Bestellung auf Englisch aufgenommen wird, stelle ich mir vor, dieses trendige Lokal befände sich in einer großen Stadt in England. Genau an der Stelle des Artisan befand sich vor 20 Jahren ein Lokal mit Stühlen aus Kunststoff und Einweggeschirr. Und es gab noch etwas von dem Besteck, das einer früheren Milchbar entstammte. Dann kamen die großen, schweren Holzbänke, Tischlereiarbeit, bald auch die großen Sonnenschirme der führenden Biermarken. Das Essen war einst hervorragend, dann zu schwer, heute ist es vegetarisch, französisch, und healthy. Die Kund*innen sind heute anspruchsvoller, wertender. Wie geht es den Servicekräften? Ich weiss es nicht, es hat sich einiges verändert.

Ich freue mich gerade, dass ich in einem Kühlregal Einmachgläser mit der gesuchten Lieblingssuppe finde, zum Mitnehmen, “home-made”. Da kommt mir „SORRY“ wieder in den Sinn. Ich lese noch einmal über das Kunstwerk und erfahre, dass Joanna Rajkowska an „SORRY“ zu arbeiten begann, als sie zeitweilig in London lebte, zur Zeit des Brexit-Votums. Stereotype Anfeindungen nahmen zu, und das ließ sie auch an die Rufe nach einem „Polexit“ denken. Zurück in Polen schockierten sie die brutalen Pushbacks an der Grenze zu Bielarus.
Wie gehen wir mit flüchtenden Menschen um, in der EU? Wie führen wir Wahlkämpfe, in den einzelnen Staaten? Diese Fragen sind es, die Rajkowska „SORRY“ in eine Mauer als Beton meißeln ließen. Ja, es ist eine Mauer, denke ich. Rajkowska hat für ihr Anti-Denkmal einen elegant-kühlen Schriftzug gewählt. Zwischen den Buchstaben sind Durchlässe, theoretisch gedacht: Wasser könnte sie umspülen. Aber das hilft nicht. Hilft nicht den Menschen auf der Flucht. Macht die toten Fische in der Oder nicht lebendig. Sorry ist ein Wort, das mehr sein könnte als eine leere Floskel der Gleichgültigkeit. Sorry, aber wann ist das so?
—
Einige Jahre habe ich in Frankfurt (Oder) und Słubice gelebt, aber auch danach bin ich immer wieder an die Oder gefahren. Im Artikel “Die Oder in mir” habe ich darüber nachgedacht, wie mein Hingezogensein mit meiner lang zurückliegenden Migration von Polen nach Deutschland zusammenhängt.
Das Instytut für Angewandte Geschichte widmet sich seit vielen Jahren der Doppelstadt Frankfurt (Oder) – Słubice, sowohl aus historischer als auch gegenwartsbezogener Perspektive. Felix Ackermann, Wegbereiter des Instytuts, schrieb über die Stadtbrücke, die Frankfurt mit Słubice verbindet, dass sie “kein gewöhnliches Bauwerk” sei, das über die Oder führt. “Es ist lokaler Geschichtsort der deutsch-polnischen Beziehungen und Symbol für deren Zukunft.” In einer Zeit der Einschränkungen des alltäglichen Grenzverkehrs lohnt es sich, diesen Artikel aus dem Jahr 2012 erneut zu lesen.
