Ein nasser Tag im November. Das erste Mal ist Schnee angesagt. Wir fahren nach Schwedt. Schwedt vor Stettin, Schwedt weit weg von Berlin.
Erzähle ich vorab Freunden von meinem Fahrtziel, kommen die immer gleichen Assoziationen: Schwedt, Öl Raffinerie, PCK (ehem. VEB PetrolChemisches Kombinat). Schwedt, das sind lange Rohre, Arbeitskämpfe, Russland. Das Rohöl ist drei Wochen in den Pipelines unterwegs, bevor es in Schwedt ankommt. In meinen Vorabrecherchen lerne ich, dass auch Papierproduktion eine große Rolle spielt. Über Jahrzehnte stand an der Oder die Industrie hoch im Kurs. Und Schwedt war eines ihrer Zentren.
Bei der Ankunft lesen wir als erstes: „Willkommen in der Stadt am Nationalpark Unteres Odertal“. Alles Holz. Alle paar Schritt weiter sehen wir seltene Vögel, alte Herrenhäuser und Denkmäler. Auf den Wänden von Plattenbauten. Schwedt schafft sich eine neue Identität. Natur und historische Bausubstanz sollen das Image dieser Stadt ausmachen.
Ist das Vision oder Illusion?
Schwedt wurde 2008 als erster Stadt Deutschlands der Titel “Nationalparkstadt” verliehen. Seit über zehn Jahren ist es nun der offizielle Beiname. So wie Hannover die Messestadt ist oder Wittenberg die Lutherstadt (es ließen sich andere historische Beispiele nennen, das Marketingwerkzeug Stadt geht auf die Zeit des Nationalsozialismus…)
Vögel, Häuser, Gassen, Pflanzen auf Wandmalereien, die das Auge täuschen. Sie begeiten uns weiter auf dem Weg in die Stadt. Und das tatsächlich recht kunstvoll. In der Kunstgeschichte öffnet sich nun die Genre-Kartei “Trompe-l’œil”: Augentäuschung. Im 17. Jahrhundert traten Briefe, Siegel, Federkiel erstmals aus dem Gemälde heraus, als lägen sie zum Greifen nah vor dem Betrachter.
Oder die Grenze des üblichen Rahmens in der Malerei wurde infrage gestellt, wenn der portraitierte Junge aus dem Bild herauszuklettern schien. Eine Revolution. Brecht’sches Theater in der Malerei, die Grenze zwischen Bild und Betrachter löst sich auf. In den 1980ern kamen “Trompe-l’œil”-Werke zurück: auf Wänden von Poolanlagen und griechischen Restaurants. Ein Blick in die Ferne, meist in den Süden.
In Schwedt bleiben wir in Schwedt, im Norden Brandenburgs.
Aber Schwedt bekommt Tiefe, bekommt Atrium, Stuck und Gassen mit Pinsel und Farbe geschenkt. In der Kunst heißt es “erzwungene Perspektiven”. Auf uns wirkt es eher wie “geschenkte Perspektiven”. Manches davon war einmal. Das Auge wird nicht getäuscht, sondern entführt in eine frühere Zeit, als Schwedt nicht am Rand lag, als Schwedt nicht für Öl stand.
Schwedt kommt von “Scwet” und das bedeutet Licht
Wo sich nun romantische Ranken auf Plattenbauwänden zeigen, gab es auch zu DDR-Zeiten Visionen. Die waren “slick” wie ein Rennreifen. Rechte Winkel, geometrische Formen, Grünflächen sind darin eingeplant doch ebenfalls rechtwinklige, funktionale Flächen.
Der kleine Park heute ist trotz des mit dem Lineal gezogenen Grundrisses organisch in der Anmutung und es gelingt, mit ihm die zwei Welten von Altstadt und Planstadt, pastellfarben die eine, grafisch gemustert die andere, ein wenig zu verbinden.
Die Häuser in der Altstadt nahe der Oder, historisch oder neu, aber gut an die historische Bausubstanz angepasst, tragen Farben von Eissorten. Pistazie, Erdbeer, Vanille. Auch wenn es Leerstand gibt, wirkt es hier lebendig durch kleine Geschäfte.
Im Handarbeitsladen werde ich in Gespräche verwickelt. Es gibt es aus Natur- und Kunstfasern Mützen, Taschen, Pullover, Pullunder, Jacken. Für große und kleine Menschen. Und für gehäkelte Wesen.
Häschen tragen Unterhosen und Söckchen. Ein großes Süß, das zur Freundlichkeit der drei Frauen passt, die hier arbeiten und das Geschäft wohl auch ein Zuhause nennen, solange arbeiten sie schon hier. Ich kaufe ein Tier mit langen Ohren und Lurexkapuze. Die hat kleine Aussparungen, um die Ohren hindurchzuziehen.
Als wir weitergehen, weg von der Oder nach Schwedt Mitte, erlebe ich in Stufen die Zerschneidung der Stadt durch die neuen-alten Einkaufsstrukturen. CKS – das Einkaufszentrum aus Vorwendezeiten hat die typische reliefartige Fassade ostdeutscher Kaufhallen. Darinnen ein bisschen Sommer, ein bisschen Weihnachten, Drogerie und Praktisches.
Der Abend beginnt am Himmel, eigentlich ist noch Tag. Doch wir müssen weiter.
Nur wenig weiter dann der spätkapitalistische Einkaufspark. Das Nachwendezentrum mit den üblichen Discountläden, viel Parkfläche und Busbahnhof. Auch hier aber ist es belebt, auch hier so sehr freundlich. Das Städtische an der Oder ist unser Auftakt. Gut, vielleicht, um dann die Natur zu begreifen. Unser nächstes Ziel ist Criewen. Alles Urbane wird vergessen sein. Dort beginnt für uns der Besuch des Nationalparks Unteres Odertal.