Sven Johne hatte seinen Film „Vom Verschwinden“ am 13. Februar in Frankfurt (Oder) soeben gesehen. Es war die Stimme seines Kindes, die zu hören war; der Sohn des Künstlers hat vor etwa drei Jahren den roten Faden einer transgenerationalen Familiengeschichte für den Film eingesprochen. Am Abendbrottisch sozusagen. In einer Klarheit und Eindringlichkeit, die bewegt. Johne wechselt den Platz vom Zuschauerraum nach vorn zum Podium und erzählt. Er sei „immer noch ein wenig angefasst davon“, er habe den Film länger nicht gesehen.
Ist es ‚gemein‘, die Stimme eines Kindes aufzunehmen? Johne spricht selbst den Zweifel aus, eine künstlerische Zweisamkeit herzustellen und auf diese Weise Zugang zu einem Raum zu geben, in die Naturlandschaft der Stubnitz, als einen persönlichen Erfahrungs- und Erlebnisraum. Der Film führt unmittelbar in das temporäre ‚Wohnzimmer‘ der Familie, sie sucht die Stubnitz regelmäßig zum Wandern auf. Die traumatischen Familiengeschichten gehören dazu, er frage nach, er erzähle selbst, es stellen sich weitere Fragen, es wird erzählt – was in dieser Aufzählung sicher einfacher klingt, als es tatsächlich ist. Dann gesteht der Künstler, dass er den Film weiterhin möge, seine Wucht.
Auf uns wirkt Johnes Selbstreflektion als „eine Art Kriegsenkel“ überzeugend. Wenn er davon spricht, dass der Zweite Weltkrieg in seiner Familie auch 80 Jahre nach Kriegsende immer noch „unser großes Thema“ sei, spricht er von sich, und auch von uns, die bei der Veranstaltung dabei sind. Sich auf die Stimme des Kindes einzulassen, empfinden wir als einen Schlüssel, um anders wahrzunehmen, sich unmittelbarer auf das einzulassen, was zu sehen und was zu hören ist. Dann wird die Umgebung, die Natur zur Protagonistin. Und das, worum es geht, verweist plötzlich weniger auf das, was war, sondern vielmehr noch auf das, was zukünftig wird. Zunehmende Erdrutsche, umstürzende Bäume, wegspülende Sandbänke – wie gehen wir damit um, und wie werden wir damit umgehen?
Wenige Wochen nach dem Künstlergespräch sitzen wir in einer anderen Gesprächsveranstaltung und hören zu. In der „Topographie des Terrors“ geht es um historische Aufarbeitung. Monika Engelking, Gründerin und Leiterin des Zentrums zur Erforschung des Holocaust an der polnischen Akademie der Wissenschaften und Professorin am Institut für Philosophie und Soziologie in Warschau ist nach Berlin angereist, um ihr neues Buch zu diskutieren: „Oto widać, i oto slychać“.
Der Sammelband ist bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden, wörtlich ließe sich der Titel so übersetzen: Das ist zu sehen, und das ist zu hören.
Engelking ist es wichtig, nicht nur aus einer Disziplin auf ihr Thema zu schauen. Sie arbeitet historisch, soziologisch, ist aber auch Psychologin. In ihrem Aufsatz geht es um die Erfahrungen von Juden, die Massenerschießungen überlebt haben. Emotionen seien wichtig. Sie zu analysieren fließe in ihre Arbeit ein. Sie begreife die Auseinandersetzung mit Gefühlen als „pomost“.
Ihre Schilderungen gehen mir nach, und dieses Wort „pomost“, Barbara Engelking sprach an dem Abend polnisch, bleibt mir haften. Sie wertet Archivmaterial aus, bearbeitet nüchtern Forschungslücken. Und misst der Rolle von Gefühlen eine wichtige Bedeutung zu. Auf verschiedenen Ebenen.
Es geht um Fragen zu Ur-Gefühlen wie der Angst, ob wir sie uns als Skala denken können oder ob es jenseits von Intensitätskategorien eine Angst gibt, die einen eigenen Begriff bräuchte. Es geht um Fragen der Auswahl und der Auswertung, wann und wie welches Material ausgewertet wird. Und es geht um den Gebrauch zentraler Begriffe wie dem des Traumas. Wann trete sie Menschen zu nahe und missverstehe sie, wenn sie diesen Begriff gebraucht, fragt sich die Forscherin. Und sie meint dabei nicht nur die Menschen, deren Erfahrungen sie mithilfe von Archivmaterialien erforscht. Sie meint auch die Menschen, die sie in ihrem Alltag trifft. Auch diese Selbstreflexion fließt in ihre Arbeit ein.
Mein Gefühl sagt: ja, bei dieser Komplexität ist es hilfreich, mir einen „pomost“ vor Augen zu führen. Mich vor meinem inneren Auge auf einem „pomost“ zu bewegen, um klarer zu sehen, welche Frage ich wie weiterverfolge. Dazu gehört für mich die Überlegung, welches deutsche Wort für „pomost“ passt.
Die KI sagt, ich könne „pomost“ mit „Brücke“ oder „Plattform“ übersetzen. Aber das gefällt mir nicht. „Brücke“ heißt auf polnisch „most“, nicht „pomost“. Eine Brücke erfordert höhere Ingenieurskunst. Sie steht für Stabilität und hat einen festen und kartographierten Standort. Ich schaue mir Bilder auf Google an und ja, was ich sehe, hat viel mehr mit meiner Vorstellung von „pomost“ zu tun: einfache Stege aus Holz, am Ufer eines Sees oder Flusses.
Ich denke an den See zurück, in dem ich in den Sommerferien als Kind badete. Er hatte keinen Steg. Eine Luftmatratze diente uns Kindern als Sprungbrett ins Wasser, wir schubsten uns gegenseitig herunter, spielten, dass wir ertranken, riefen um Hilfe, „do pomocy!“ Plötzlich schlug eine laute Stimme die Rettung vor: „budujemy pomost!“ Kommt, wir bauen eine Art Floss, eine schwimmende Plattform, eine Fähre.
Gibt es dafür wirklich kein Wort im Deutschen? Das möchte ich nun so gern genauer wissen, dass ich mein altes Wörterbuch hervorhole, in dem ich schon seit vielleicht 20 Jahren nichts mehr nachgeschlagen habe. Und tatsächlich, es handelt sich um ein, wie ich finde, wunderschönes uneindeutiges Wort. Es handelt sich bei „pomost“ um eine sowohl feste wie mobile Konstruktion, oder um ein platziertes Brett. Eine Konstruktion, die zum Wasser hinführt oder über ein Gewässer hinweg, oder über etwas anderes hinüber. Sie ermöglicht. Manchmal ist sie historisch (Straßenbahnen älteren Typs hatten im vorderen oder letzten Waggon einen „pomost“).
Zurück zur Diskussion mit Sven Johne. Wir sprachen mit dem Publikum darüber, wie wichtig uns die Oder erscheint, wenn wir der Stadt, in der wir leben, gelegentlich den Rücken zukehren, sei es auch nur für einige Augenblicke. Mit ihrer Weite erinnert uns die Oder daran, am Meer zu sein. Sie wirkt positiv auf uns, tut uns gut. An ihren Ufern stehen wir anders in der Welt, wir erspüren unsere Verbindungen zur Natur. Fragen zu dem, was war und was sein wird, lassen sich hier nicht ‚verkopft’ erörtern. Dazu ist manchmal zu viel Wind, oder eine zu beeindruckende Stille. Was ist das für eine Erde, auf der wir stehen, und was vernehmen wir im Rauschen des Wassers?
Für die Teilnehmer:innen unserer Veranstaltung sind die Seelower Höhen ein Begriff, und Sven Johne verweist auf den Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge, den ich nachbereitend erstmalig in meinem Leben Mal google. Ich erfahre, die Maustaste klickend, und kann dies einen Moment lang kaum glauben, dass dieser Volksbund mit einem Verein zusammenarbeitet, der „Pomost“ heißt. Ich erfahre, dass Helfer:innen aus Polen und aus Deutschland an der Oder gemeinsam Skelette heben, Gebeine aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. „Pomost ist die Brücke“, erklärt einer der Helfer, der ein schwarzes T-Shirt mit eben diesem Aufdruck „Pomost“ trägt. Seine schnell auf auf den Punkt gebrachte Übersetzung ist an dieser Stelle gut, sie erscheint mir hilfreich – und ich denke an das Wort „pomoc“, „die Hilfe“.
Bei deutsch-polnischen Unterfangen geht es häufig ums Brückenbauen. Im übertragenen Sinn. Was gut ist. Brücken tatsächlich bauen wäre gut. Wie sollen sie aussehen, in welche Zukunft sollen sie uns tragen? Bei unseren Reisen entlang der Oder beschäftigen Alina und mich alte Brückenpfeiler, die wie amputiert aussehen – sie hat dazu einen Blog-Eintrag geschrieben.
Eine rasant schnelle Übersetzung von Wörtern durch die KI bringt mich zum Staunen, aber sie ist nicht immer das, was ich wirklich brauche und was mich weiterführt. Ich könnte häufiger einer Kindheitserinnerung lauschen. Es wäre gut, mehr von dem Helfer des Vereins „Pomost“ zu erfahren. Wie ist er zu seiner Arbeit gekommen? Wie nimmt er sie wahr, was geht ihm durch den Kopf? Es wäre gut, bald wieder entlang der Oder zu laufen, mit den Kindern. Und wenn eine ihrer Fragen herausfordert, wird es gut sein, wenn da etwas ist, was wir als „pomost“ gebrauchen können.